Kaum ein Land hat in den letzten Jahren einen vergleichbaren Boom erlebt wie Indien. Auf der einen Seite sprießen Wolkenkratzer aus Stahl und Glas in High Tech-Metropolen wie Mumbai und Bangalore wie Pilze aus dem Boden, auf der anderen Seite lebt ein Großteil der Bevölkerung noch immer in Armut in Holzhütten. Wie krass die Gegensätze zwischen arm und reich sind, weiß jeder, der einmal auf einer Rundreise Indien besucht hat. Gleich neben Fünf-Sterne-Luxushotel, in denen einheimische und ausländische Besucher jeden erdenklichen Komfort genießen, hausen Bettler in Slums und selbstgebastelten Bretterverschlägen am Straßenrand in bitterster Armut. Viele westliche Besucher kommen mit der allgegenwärtigen Armut in Indien nur schwer klar, denn nirgendwo auf der Welt wird sie so brutal offen zur Schau gestellt wie auf dem Subkontinent.
Eine wachsende Mittelschicht und das Kastensystem
Wie sehr in Indien Tradition und Moderne aufeinanderprallen, zeigt das Kastensystem, an dem seit Jahrhunderten eisern festgehalten wird. Danach wird jeder Inder einer bestimmten Kaste zugehörig geboren, die er auch nie wechseln kann. Wer als nichtshabender Dalit (Unberührbarer) geboren wird, hat keine Chance, sich in diesem Leben daraus zu befreien. Das steht im krassen Gegensatz zur westlichen, insbesondere dem amerikanischen, Maxime, dass jeder, der sich anstrengt, zu Reichtum und Ansehen gelangen kann. Die einzige Hoffnung eines Dalits ist, in diesem Leben genug gutes Karma zu sammeln, um im nächsten Leben in einer besseren Kaste wiedergeboren zu werden. Das Kastensystem, das viele Menschen am Boden der Gesellschaft festhält, sorgt zusammen mit der noch stets mangelnden Bildung vor allem von Mädchen und der fehlenden Infrastruktur in ländlichen Gebieten dafür, dass große Teile der indischen Bevölkerung nicht am aktuellen Wirtschaftsboom teilhaben können. Bis sich daran etwas ändert, wird noch viel Wasser den Ganges hinunterfließen. Anders sieht es bei den mittleren Kasten aus, den Kasten der Kaufleute, Händler und Handwerker. Sie profitieren am meisten von Wirtschaftsboom und sozialem Aufstieg. Wer auf einer Rundreise Indien besucht, sieht in allen Städten hochmoderne Vorstädte mit Apartmentanlagen, Hochhäusern und gartenumringten Villen, die vom neuen Wohlstand der indischen Mittelschicht erzählen. Sogar die traditionellen Märkte und Bazare wurden hier von Kaufhäusern abgelöst und die moderne indische Frau trägt wie selbstverständlich Jeans statt Sari.
Indien steht vor einer ungewissen Zukunft
Noch sonnt sich Indien im Glanz seines wirtschaftlichen Wachstums. Doch wie der Hungerstreik des Aktivisten Anna Hazare gegen die allgegenwärtige Korruption im Sommer 2011 zeigte, gärt es unter der Hochglanzfassade des neuen Indiens. Zahlreiche Anhänger und Unterstützer traten nicht nur in Delhi, sondern auch in Mumbai, Chennai, Bangalore und anderen Städten ebenfalls in den Hungerstreik, bis das neue Anti-Korruptionsgesetz doch noch ins indische Parlament kam. Um dauerhaften Wachstum zu garantieren, muss Indien noch viel gegen die soziale Ungerechtigkeit und die Benachteiligung von Frauen und Menschen aus den niederen Kasten unternehmen, damit die krassen Gegensätze sich nicht weiter vertiefen. Dem Subkontinent stehen noch viele bewegte Jahre bevor.